Oder der 2. Teil von

„Die schönen Tage in Aranjuez sind nun zu Ende.“ Friedrich Schiller (Don Carlos)

„Mord rufen und des Krieges Hund’ entfesseln.“ William Shakespeare (Julius Caesar) vom 17. März 2022

Ein Essay nach einer Veranstaltung mit Dr. Arnold Kammel Die Bedrohung Europas durch Russland – Herausforderungen für die Sicherheit des Kontinents und unseres Landes“ am 16. Juni 2025 in der Diplomatischen Akademie.

(Fotos © Wolfgang Geißler, Wolfgang Menth-Chiari)

Von Wolfgang Geißler

Kaum war der Nachhall eines „elegischen Picknicks“ (copyright Dr. Christiani) verklungen – organisiert am Samstag von der Österreichisch-Britischen Gesellschaft in Ebreichsdorf, bei Sonnenschein und wohltemperierter Stimmung –, fand man sich zu Wochenbeginn auf den harten Boden der geopolitischen Realität zurückversetzt.

Vizepräsident der Österreichisch-Britischen Gesellschaft, Botschafter Dr. Alexander Christiani eröffnete die Veranstaltung mit klaren Worten: „Für Russland ist Europa zum Feind geworden“ – und erinnerte daran, dass die Sicherheitsgarantie der USA nur mehr eingeschränkt gelte. Ein neuer Eiserner Vorhang – von der Ostsee bis zur Türkei – sei entstanden. Was noch vor wenigen Jahren undenkbar erschien, ist nun Teil der Wirklichkeit.

Und mittendrin: Österreich. Neutral, ja – aber keineswegs abseitsstehend. In seiner Einleitung hob Dr. Christiani die prekäre Lage hervor: das wachsende Risiko für kritische Infrastruktur, terroristische Bedrohungen und die Notwendigkeit einer strategischen Debatte über Europas Sicherheit. Mit Nachdruck betonte er die Bedeutung ausgewiesener Fachleute – und übergab das Wort an einen der bedeutendsten:

Dr. Arnold Kammel, Generalsekretär und Generaldirektor für Sicherheits- und Verteidigungspolitik im Bundesministerium für Landesverteidigung, verantwortet nicht nur den zivilen, sondern auch den gesamten militärischen Apparat der Republik. Als engster Berater der Bundesministerin ist er eine Schlüsselfigur der sicherheitspolitischen Entscheidungsfindung – und ein fesselnder Redner, wie sich bald zeigen sollte.

Von der Weltkarte zur strategischen Diagnose

Dr. Kammel sprach frei, reflektiert, beinahe atemlos – nicht, weil er hetzte, sondern weil die Weltlage eine solche Dichte an Bedrohungen aufweist, dass kaum Pausen bleiben. Seine zentrale These: Europa wird in seiner strategischen Bedeutung zunehmend marginalisiert – nicht, weil es ohnmächtig wäre, sondern weil es sich systematisch seiner eigenen Machtmittel und Prioritäten verweigert.

Er erinnerte dabei auch an seinen Vortrag hier in der Diplomatischen Akademie vom 17. März 2022 – ein „Wake-up Call“ unmittelbar nach dem russischen Überfall auf die Ukraine. Schon damals sprach er von einem Paradigmenwechsel in der Sicherheitsordnung, von der „Schutzmantelmadonna Neutralität“ als Ausflucht, und von der Notwendigkeit, ehrlich über die Rolle Österreichs im Bündnisfall zu sprechen. Besonders betonte er – wie auch diesmal – die Bedeutung von Artikel 42 Absatz 7 EUV:

„Im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedsstaates sind die anderen verpflichtet, mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln Hilfe zu leisten.“

Ein Passus, der weit über Symbolik hinausreicht – und gerade für neutrale Staaten wie Österreich bedeutet, sich klar über den Umfang solidarischer Beiträge zu definieren. Kammel stellte klar: Diese rechtliche Verpflichtung steht nicht im Widerspruch zur Neutralität – wohl aber zur Untätigkeit.

Afrika, China, Migration: Drei Prüfsteine europäischer Zukunft

Dr. Kammel spannte den Bogen weit: Afrika sei zur Quelle geopolitischer Instabilität geworden – und zugleich zum großen blinden Fleck europäischer Außenpolitik. Der „Ring of Fire“, von Westafrika bis zum Horn, sei längst Realität. Migration werde zur Nagelprobe europäischer Handlungsfähigkeit – und zur Frage, ob Europa als Projekt Bestand haben kann.

Noch schärfer war seine Kritik an der Illusion europäischer Einflussnahme in globalen Fragen: Im südchinesischen Meer, entlang maritimer Lebensadern der Wirtschaft, sei Europa – so seine Worte – „de facto irrelevant“. Während die USA und China ihre strategische Auseinandersetzung vorbereiten, bleibe Europa Zuschauer – ohne Zugang zu Bühne oder Skript.

Botschafter Dr. Christiani: Ein Diplomat redet Klartext

In der anschließenden Gesprächsrunde griff Dr. Christiani die Kernaussagen dankbar auf – und schärfte sie nach. Mit feiner Ironie bemerkte er, dass nicht alle Krisen im Osten lägen – eine, so seine Bemerkung, befinde sich „deutlich westlich – in Washington“.

Auch innenpolitisch blieb er klar: Fachliche Kompetenz sei vorhanden, Publikationen wie die sicherheitspolitische Jahresbroschüre des BMLV lägen vor – nur: „Wer liest sie in der Politik?“ Die strategische Debatte werde eher im Vortragssaal als in Kabinetten geführt – ein Missstand, der sich bitter rächen könne.

Wiederholt wies auch Dr. Christiani auf Artikel 42 (7) EUV hin – und stellte die unbequeme Frage: Was bedeutet europäische Solidarität für ein neutrales Land konkret? Schweigen sei keine Antwort.

Ein Raum für Nachdenklichkeit – Stimmen aus dem Publikum

Die Fragerunde war Ausdruck einer wachen Zuhörerschaft. Eine Wortmeldung thematisierte die Unvereinbarkeit der Beistandspflicht mit sicherheitspolitischer Zurückhaltung. Eine andere betonte, dass Europa ohne eine glaubwürdige Rüstungsindustrie keine sicherheitspolitische Rolle spielen könne.

Besonders eindringlich war die Verbindung zwischen Migrationsdruck und strategischer Vernachlässigung: Wenn Europa weder seine Außengrenzen schützt noch Konfliktprävention in Afrika ernst nimmt, müsse man sich über Destabilisierung im Inneren nicht wundern. Dr. Kammel bestätigte dies knapp: „Die Migrationsfrage ist keine Sozialpolitik – sie ist strategisch.“

Ausklang mit Weckruf – und einem ironisch-humorvollen Wunsch

Die Veranstaltung endete mit einem Appell: Wenn Europa sich nicht seiner Rolle stellt – militärisch, wirtschaftlich, geistig –, wird es nicht scheitern, sondern verschwinden.

Dr. Kammel nannte das „strategische Irrelevanz“. Doch noch sei das Fenster offen. Jetzt sei der Moment, sich neu zu besinnen.

Botschafter Christiani beendete den Abend mit einem ebenso charmanten wie deutlichen Wunsch:

„Was wünsche ich Dir in Deiner Funktion? Du beklagst – zu Recht und sehr offen –, dass die Politik nicht darauf hört. Du bist der engste Berater der Bundesministerin für Landesverteidigung. Also entweder Du setzt Dich durch – oder Du willst gehen. Jedenfalls wünschen wir Dir, im Namen Österreichs und von uns allen, dass das Erste zutrifft. Vielen Dank!“

Ein würdiger Schluss – herzlich, klar, mit dem nötigen Ernst und einem Schuss österreichischem Realismus. Möge dieser Wunsch Gehör finden – nicht nur im Saal, sondern auch in den Schaltzentralen europäischer Sicherheitspolitik.

Nach all dem gab es wieder die exzellenten Weine der Diplomatischen Akademie sowie eine reichhaltige Auswahl von Canapés und Desserts.

Ich scheue mich nicht, all jenen mitzuteilen, die sich entschieden haben, dieser Veranstaltung fernzubleiben: Sie haben etwas Großartiges verpasst – etwas, das so bald nicht wiederkehrt.

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