(Rückblick auf „Europa und die Zeitenwende: werden wir jetzt geeinter, solidarischer und souveräner?“. Montag, 17. Oktober 2022 in der Diplomatischen Akademie)

Von Wolfgang Geißler

Si tacuisses philosphus mansisses. Ich hätte vielleicht doch den Mund halten sollen, als unser Vizepräsident Botschafter Dr. Alexander Christiani in seiner Einleitung sagte, es wäre vor zwei Jahren gewesen, dass er Prof. Dr. Martin Selmayr im selben Saal der Diplomatischen Akademie zu einem Vortrag eingeladen hätte. „Drei“ unterbrach ich keck und hob noch dazu meine drei Finger der rechten Hand wie zu einem Schwur. Dazu verlautete ich, dass eben derselbe Prof. Selmayr am 21. Februar 2019 zu uns sprach. Natürlich falsch. Der vorhin erwähnte Vortrag: „Die Europäische Kommission: Nur Zuschauer oder doch Player in der globalen Machtpolitik“ fand am 21. Februar 2020 statt, also vor 2 Jahren und knapp 8 Monaten. Da ich kompromissbereit bin, gebe ich dem Herrn Vizepräsidenten recht, musste mir aber etliche Male die „Drei Jahre“ vom Prof. Selmayr hören lassen. „Aufgerundet“ waren es ja ohnehin „drei Jahre“, oder?

Damals schrieb Botschafter Dr. Christiani zu dem erwähnten Vortrag von Prof. Selmayr im Jahr 2020: „Selmayr legte in überzeugender Weise dar, welche weltweite Macht und Durchsetzungskraft  der EU bereits jetzt zukommt und zukommen würde, wenn nur in manchen Fällen der politische Wille zu Entscheidungen und Veränderung vorhanden wäre. Er zeichnete ein Bild, getragen von großem Optimismus, was anfänglich einigen vielleicht als Wunschdenken vorgekommen sein mochte, es wurden die Zuhörer  jedoch mit jedem weiteren Satz eines Besseren belehrt.“

„In einer,  Europa von außen feindlich gesinnten Atmosphäre, von den USA über Russland -um nur die wichtigsten zu nennen-sei es auf der Hand gelegen, dass die neue Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen die geopolitische Rolle der EU zum Angelpunkt ihrer Politik für die nächsten Jahre gemacht hatte.“

„Die größte und in ihrer Auswirkung nicht zu überschätzende Stärke der EU sei ihr Binnenmarkt, dem weltpolitische Relevanz zukomme. Kein anderer Staat -so mächtig er auch sei-könne heute an dieser Tatsache vorbeigehen und gibt den 27 Mitgliedstaaten vor allem in Handelsfragen eine starke Stellung.“  Daran sollten wir im gestrigen Vortrag zum Thema: „Europa und die Zeitenwende: werden wir jetzt geeinter, solidarischer und souveräner?“ kraftvoll erinnert werden.

Zuerst aber wurden die rhetorischen Fronten festgelegt. In einer bemerkenswerten Rede, die von Dr. Christiani leidenschaftlich vorgetragen wurde, bezeichnete er den Krieg in der Ukraine als keinen ukrainisch-russischen Konflikt mehr, sondern als einen europäischen Konflikt. In diesem Sinne klagte er, der Westen sowie die EU, seien nicht um Deeskalation bemüht, sondern eher bereit, Selenskyjs Forderungen „undifferenziert“ nachzukommen, bis zu seinem „absurden“ Wunsch, die Krim zurückzuerhalten. Dr. Christiani bemängelte das Fehlen von Kompromissbereitschaft und warnte vor dem Zerfall der europäischen Solidarität.

Professor Selmayr wies diese Vorstellung, was ja zu erwarten war, vehement zurück.

Europa, so erinnerte er, erlebt gerade jetzt, 2022, eine Zeitenwende. Zeitenwende wird oft mit „Umbruch“ umschrieben. Am besten wird es mit dem Folgenden beschrieben: „Eine Zeitenwende ist die tektonische Verschiebung der Geschichte Europas“.

1989 war  eine solche Zeitenwende: der Fall der Mauer, das Ende des Kalten Krieges, der Zusammenbruch der Sowjetunion, die Wiedervereinigung Deutschlands, die Reformbewegung in Osteuropa.

2022, der Krieg ist Europa zurückgekommen, Putin hat den Krieg zurückgebracht, in der unmittelbaren Nachbarschaft Europas. Ein Angriff einer Nuklearmacht. Ein Angriff nicht nur mit ein paar Soldaten, sondern mit 500.000 Mann. Eine so große Angriffsarmee hat es seit 1945 auf dem europäischen Boden nicht mehr gegeben. Gleichzeitig die offene Drohung, nukleare Waffen einzusetzen.

Eine Völkerrechtsverletzung. Nicht nur Selenskyj, sondern die gesamte EU, also auch die österreichische Bundesregierung verlangt, dass natürlich auch die Krim zurückgegeben werden muss. Die Krim ist völkerrechtswidrig annektiert worden. Wir dürfen Völkerrechtsverletzungen nicht hinnehmen!

Wenn innerhalb Europas oder wo immer in der Welt jemand Grenzen, die völkerrechtsmäßig anerkannt worden sind, mit Waffengewalt verschiebt, darf eine demokratische Gesellschaft nie akzeptieren. Das ist die Friedensgrundlage in Europa seit dem 2. Weltkrieg. Die Schlussakte von Helsinki, das ist ja nicht ein Dokument, das der Westen dem Osten aufzwang, sondern ist am Höhepunkt des Kalten Krieges zwischen dem Osten und Westen verhandelt worden, in dem es steht, dass Grenzen nicht mit Waffengewalt verschoben werden dürfen. Ebenso das Recht jedes Staates sich sein Partner und Bündnisse, also Sicherheitsbündnispartner, selbst auswählen zu dürfen. Das gehört zur Nachkriegsordnung Europas. Wer das infrage stellt, der muss schärfstens zurückgewiesen werden und jeder Schritt einen Teil davon nicht anzuerkennen, unterminiert die Friedensordnung, die wir in Europa haben und unser Wohlstand, auch der von Österreich.

Was verlangt diese Zeitenwende von uns. Sie fordert von uns 5 Neubewertungen.

  1. Neubewertung und Repriorisierung des Themas Sicherheit
  2. Neubewertung der Rolle des Staates
  3. Neubewertung und Neuorientierung der Globalisierung („jeder zweite Euro wird vom österreichischen Außenhandel erwirtschaftet“)
  4. Neubewertung ist die gesamte Frage, wie wir mit Zins, Geld und Preisen umgehen
  5. Neubewertung der Rolle Europas und der Europäischen Union („die man sehen kann wie Dr. Christiani oder so sehen kann, wie ich.“)

Werden wir durch diese „Zeitenwende“ geeinter, solidarischer oder souveräner?

  1. Geeinter

Wirtschaftssanktionen. Warum? Wir wünschen nicht militärisch einzugreifen.   Jede Entscheidung einstimmig! Es ist gut, dass es die Einstimmigkeit gibt. Man „überstimmt“ nicht einen Staat. Wir sind Demokratien, wir streiten uns. Aber es „bröckelt“ nicht. Sind wir bereit, einen Preis zu zahlen? Ja, wir sind bereit.. Seit 2014 müssen alle Sanktionen von 27 Staaten alle sechs Monate einstimmig verlängert werden. Das heißt, seit 2014 achtzehnmal! „Smart Sanctions“. Geeint sind wir schon!

  1. Solidarischer

Anfänglich nicht gerade, wie uns die Coronakrise lehrte. Der Mensch ist egoistisch. Aber dann setzt man sich zusammen. Gemeinsam wurde Geld aufgenommen, um den Staaten, die weniger haben, unter die Arme zu greifen. Solidarität in Energie gefragt. Optimistisch, dass die Solidarität in der Energiefrage funktioniert, weil man voneinander abhängig ist. Nationale Einzelgänge würden bedeuten, dass die Lichter ausgehen. Wir müssen uns so verknüpfen, dass es nicht anders geht. Solidarisch leben wir also, aber nicht aus altruistischen Gründen, sondern aus Eigennutz!

  1. Souveräner

Souverän ist nicht Autarkie. Wir bestimmen über unsere Geschichte selbst. Wir dürfen nicht erpressbar sein. Wir müssen diversifizieren. Wir müssen schneller werden. Von Planung bis Vollendung, wie Fotovoltaik oder Windräder. Wir werden nie so schnell sein wie eine Autokratie-wir sind eine Demokratie.

Prof. Selmayr: Russland verliert den Krieg-militärisch. Glauben Sie nicht jedem, der das Gegenstück behauptet. Hören Sie auf die Experten. Spülmaschinen-Halbleiter in den russischen Panzern. Wir sanktionieren daher im achten Paket Spülmaschinen.

Die Prognose Professor Selmayr: Spätestens zu Ostern kann Putin diesen Krieg nicht mehr weiterführen. Ihm geht alles aus, auch das Geld. Und China? Für Peking ist Putin schon abgestürzt.

Ja, die gegenwärtige Zeitenwende schaut furchtbar aus, aber wenn wir uns zusammentun, kann es auch Chancen geben. Sie wird dazu führen, dass die EU sich in den nächsten 10 Jahren auf 30–35 Staaten erweitern wird. Der Westbalkan und die Ukraine werden dazukommen. Der Konflikt wird zu Ende gehen. Wir können aber nicht bestimmen, wie in Kolonialzeiten, was mit den „Hottentotten“  in der Ukraine passiert. Wir spielen uns nicht mit Einflusssphären wie einst. Die Ukraine ist ein souveräner Staat, der für sich selbst entscheiden darf und muss.

Unterschiedliche Auffassungen machen uns stärker!  Putin glaubt, das ist ein Zeichen der Schwäche.

Nein, es wird nicht die Autokratie gewinnen, sondern die Demokratie. Wenn wir nicht der Propaganda erliegen, sondern zusammenstehen, dann werden wir in „drei Jahren“ hier wieder zusammentreffen.

Nach dieser schwindelerregenden Tour de Force, einer hochintelligenten Diskussion mit unseren Mitgliedern,  verlagerten wir uns zum Buffet zu köstlichen Canapés und herrlichen Wein. Wir hatten es uns verdient!

 
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