Daniel Defoe: Ein wahrer Spion – und erster Spin-Doctor Großbritanniens.
Ein Rückblick auf Peter Bichlers Vortrag am Dienstag, 2. Dezember 2025 im
House of Scotland
(Fotos © Wolfgang Geißler und Wolfgang Menth Chiari)
Von Wolfgang Geißler
Ein Abend im House of Scotland
Der Präsident der Austrian British Society, Prof. Dr. Kurt Tiroch, eröffnete den Abend mit seinem gewohnt launigen Ton. Schon der Einstieg war typisch: Früher, erzählte er, habe er zur Eröffnung immer mit einem Glas in der einen und einem Löffel in der anderen Hand für Ruhe gesorgt. Nur vergaß er zu erwähnen, dass der enthusiastische Versuch beim letzten Mal etwas kräftiger ausfiel als geplant. Das Glas brach! Das sei wirksam gewesen. Aber inzwischen, meinte er schmunzelnd, reiche offenbar schon die „geheime Sprache der Ruhe“ von Peter Bichler, und sofort sei Stille im Raum.
Nach einem kurzen Rückblick auf das dicht gedrängte Veranstaltungsprogramm merkte Tiroch an, dass im vergangenen Jahr das Treffen im House of Scotland wegen der Fülle an Novemberterminen ausgefallen war. Umso erfreuter sei er, dass es heuer wieder geklappt habe – auch wenn der Dezember ohnehin schon mit vier Veranstaltungen bis zum 19. ordentlich gefüllt sei.
Mit sichtbarer Heiterkeit kommentierte er die Gäste, die zuvor versehentlich zum Café Ministerium statt zum House of Scotland gegangen waren, obwohl die Einladung eindeutig war. „Manche können nicht lesen, andere wollen nicht lesen, ich weiß es nicht“, scherzte er – und hielt die Einladung noch einmal hoch: „Es gilt immer das, was in der Einladung steht.“
Einladungen seien überhaupt entscheidend, fuhr er fort: Eine Veranstaltung ohne offizielle Einladung sei nicht zu besuchen. Wenn jemand das vergesse, lerne er es spätestens beim Einlass, denn ohne Anmeldung keine Gästeliste.
Schließlich leitete er zum Thema des Abends über. Normalerweise, erzählte er, lese er sich vorab in Peter Bichlers Themen ein, denn die seien oft exotisch, skurril und meist voller schottischer Bezüge. Diesmal jedoch habe er bewusst darauf verzichtet – er wolle sich überraschen lassen. „Ich habe keine Ahnung, worum es heute geht“, sagte er, „aber umso aufmerksamer werde ich zuhören.“
Mit einem herzlichen Dank an das House of Scotland für die großzügige Einladung übergab er das Wort an Peter Bichler.
Peter Bichler begann seinen Vortrag mit einem Gruß an das Publikum und einem Dank an den Präsidenten. Es freue ihn sehr, wieder Teil dieses anspruchsvollen Programms zu sein, das Kurt Tiroch mit großem Engagement auf die Beine stelle.
Dann stellte Bichler das House of Scotland vor, dessen Leiterin Ines Bogensberger zahlreiche schottische, irische und englische Manufakturen betreue und regelmäßig selbst bereise, um neue Ware zu entdecken.
Eine Spionagegeschichte aus dem 17. Jahrhundert
Bichler erklärte, dass es diesmal um einen historischen Spionagering gehe – ein wahres, verworrenes Netz, das an den berühmten Satz aus Sir Walter Scotts Dichtung erinnere:
“Oh, what a tangled web we weave, when first we practice to deceive.”
Im Zentrum dieses Netzes: Daniel Defoe – allerdings nicht nur der Schriftsteller von Robinson Crusoe, sondern ein Mann mit einer bewegten und dunklen Vergangenheit.
Bichler erinnerte daran, dass Daniel Defoe heute vor allem als Autor von Robinson Crusoe bekannt ist. Doch bevor er zum berühmten Schriftsteller wurde, führte er ein Leben voller geschäftlicher Fehlschläge, Fluchten, politischer Intrigen – und als Spion.
Dabei erzählte Bichler eine herrliche Beobachtung, die vielen nie bewusst ist:
In Robinson Crusoe wird die Hauptfigur stets in Fellbekleidung dargestellt – Pelzmantel, Fellmütze mit Ohrenklappen, Fellstiefel. Das wirkt vertraut, ja ikonisch. Nur eines sei daran völlig unlogisch, sagte Bichler: Warum Robinsons Fellkleidung unsinnig war.
Die Handlung des Romans spielt in der Karibik. Ein tropisches Klima, feucht und heiß. Fellkleidung wäre dort nicht nur sinnlos, sondern lebensgefährlich unangenehm.
Und hier kommt das Entscheidende: Defoes reale Inspirationsquelle war Alexander Selkirk, ein schottischer Seemann, der sich 1704 von seinem Kapitän freiwillig auf einer der Juan-Fernández-Inseln vor der Küste Chiles aussetzen ließ, weil er das Schiff für seeuntüchtig hielt (was sich später als richtig herausstellte).
Diese Inseln liegen viel weiter südlich, in einer kühlen, windigen, rauen Klimazone.
Dort brauchte man Fell – nicht als exotisches Accessoire, sondern zum Überleben:
- kalte Nächte
- starker Wind
- wenig Schutz
- keine mitgebrachte Ausrüstung
Selkirk improvisierte Kleidung aus Tierfellen – ein völlig vernünftiger, notwendiger Schritt.
Defoe übernahm dieses Detail für Robinson Crusoe, obwohl er die Figur in ein tropisches Klima versetzte. Ein typischer literarischer Transfer, meinte Bichler, der seither ikonisch wurde – und den bis heute kaum jemand hinterfragt.
Daniel Defoe – oder Daniel Foe – oder einer von 190 erfundenen Namen
Defoe, so Bichler, wurde 1660 geboren und entstammte einer wohlhabenden, aber gesellschaftlich benachteiligten Familie der „Dissenters“. Diese puritanische Abspaltung der Church of England war vom öffentlichen Leben ausgeschlossen. Das prägte Defoe – als Außenseiter, als politisch Wachsamem, als jemand, der überall potentielle Feinde sah.
Sein Lebenslauf war ebenso abenteuerlich wie seine Romane:
– Stoffhandel – gescheitert
– Wein- und Bierimporte – gescheitert
– Schiffsversicherung – gescheitert
– Katzenzucht zur Herstellung eines fragwürdigen „Heilmittels“ – gescheitert
– Strumpfwarenproduktion – gescheitert
– Fliesenerzeugung – ebenfalls gescheitert
Immer wieder verfolgten ihn Gläubiger, immer wieder floh er. Und immer wieder tauchte er unter einem neuen Namen auf – insgesamt etwa 190 verschiedene Aliasnamen.
Henry Every – der Pirat, der den reichsten Mann der Welt bestahl
Der zweite Hauptakteur des Abends war Henry Every (Avery), geboren ebenfalls 1660. Er war einer der berüchtigtsten Piraten seiner Zeit, intelligent, hervorragend navigationskundig – und schließlich der erste Pirat, der weltweit gesucht wurde.
Sein größter Coup: der Überfall auf einen Konvoi des Moguls von Indien, darunter ein Schiff mit dessen Tochter an Bord. Die Beute war enorm und brachte die britische East India Company in politische Bedrängnis. Die britische Krone setzte eine internationale Fahndung in Gang.
Every jedoch entkam – erst nach Madagaskar, dann unter neuen Namen über die Bahamas, schließlich nach Irland, wo er verschwand. Gerüchte machten ihn überall sichtbar und gleichzeitig nirgends.
Das Spionagenetzwerk
In diesem Geflecht wirkten Defoe und Every mit einer Reihe hochrangiger Persönlichkeiten zusammen, darunter:
- der Erzbischof Thomas Tenison,
- Politiker wie Robert Harley,
- die Herzöge von Marlborough und Portland,
- weitere einflussreiche Mitglieder der englischen Aristokratie.
Das Zentrum des Netzwerkes war die von Tenison gegründete Bibliothek in St Martin-in-the-Fields – ein idealer Ort, um Briefe abzufangen, Informationen zu sammeln und Nachrichten diskret weiterzugeben.
Henry Every – der verschwindende Pirat und der wiederentdeckte Brief
Nachdem Bichler Every als den ersten weltweit gesuchten Piraten vorgestellt hatte, erzählte er, wie dieser nach seinem großen Coup im Indischen Ozean spurlos verschwand. Man wusste nicht, ob er auf Madagaskar König geworden war, ob er in der Karibik untertauchte oder ob er längst tot war. Gerüchte und Nebelwände gehörten zu seinem Markenzeichen.
Und doch gab es einen einzigen greifbaren Beweis dafür, dass er später wieder in England (genauer: Cornwall) auftauchte:
Der Fund eines Briefes – erst 1978 in Edinburgh entdeckt
Im Jahr 1978 fand man im Scottish Record Office in Edinburgh einen Originalbrief von Henry Every, datiert auf 27. Dezember 1700.
Der Brief ist vollständig erhalten und umfasst drei Seiten.
Darin listet Every akribisch auf:
- welche Schätze er aus dem Mogul-Konvoi geraubt hatte,
- was sich noch in seinem Besitz befand,
- und welche Werte er bereit war „anzubieten“.
Bichler meinte dazu, dieser Brief wirke wie eine Inventur eines Piraten, der sich damit womöglich „freikaufen“ wollte – ein indirektes Angebot an die Behörden: Man könne das Gold bekommen, wenn man dafür seinen Kopf verschone.
Der Brief belegt eindeutig, dass Every damals im Hafen von Falmouth in Cornwall war – genau dort, wo er Post abfing und wo er später für den Spionagering arbeitete.
Every und Defoe in Europa – Spanien, Frankreich und zurück nach Schottland
Bichler schilderte, dass Every und Defoe einander zeitweise begleiteten. Every tauchte nach Cornwall auch in Spanien und sogar kurz in Frankreich auf. Die Beweggründe bleiben unklar – Flucht, Geschäfte, neue Netzwerke.
Beide wurden im Auftrag Londons nach Edinburgh geschickt – und zwar inkognito, weil sie sonst Gefahr gelaufen wären, von Union-Gegnern gelyncht zu werden.
Defoe in Schottland – ein Spion mit überraschend vielen Nebenjobs
Hier erzählte Bichler einige der unterhaltsamsten Details des Abends.
Defoe tat in Edinburgh nicht nur so, als habe er zahlreiche Berufe – er übte sie tatsächlich aus, um glaubwürdig zu bleiben:
- er handelte mit Leinen,
- mit Wolle,
- mit Salz,
- baute Beziehungen zu Kaufleuten auf,
- und sogar Pferde soll er an die Garnison des Edinburgh Castle verkauft haben.
Sein Ziel: überall dazuzugehören und gleichzeitig jede Seite zu beobachten.
In einem seiner Berichte an die Spionagezentrale in St Martin-in-the-Fields schrieb er selbstironisch:
Er verkehre mit Presbyterianern, Episkopalen, Katholiken und Agnostikern,
er habe „in jeder Gesellschaft einen treuen Boten“, und spreche mit jedermann auf dessen eigene Weise.
Mit Kaufleuten gebe er sich als Händler aus,
mit Anwälten spreche er über Hauskauf,
mit Hafenarbeitern als Schiffsbauer,
mit Männern aus Glasgow als Fischhändler,
mit jenen aus Aberdeen als Wollhändler
– und mit den Männern aus dem Westen gar als Leinenfabrikant.
Seine Pointe im Brief:
Er sei „für alles und jeden“, solange es ihm nütze.
Bichler kommentierte das trocken: Ein wahrer Spion – und gleichzeitig der erste professionelle Spin-Doctor Großbritanniens.
Das große Ziel: Stimmungsmache für die Union von 1707
Mit diesen Methoden bereitete Defoe die öffentliche Meinung für den Act of Union vor: ein Gemisch aus echten Informationen, geschickter Manipulation und – wie Bichler ausdrücklich sagte – der ersten großen Welle von Fake News in der britischen Geschichte.
Defoe ließ die Gegner der Union immer als unvernünftig, rückständig oder gefährlich erscheinen, während die Befürworter als vernünftig und weitsichtig dargestellt wurden. Der Stil erinnert auf frappierende Weise an moderne politische Kommunikationsstrategien.
Defoe in Schottland – Fake News im Jahr 1707
Besonders spannend wurde es, als Bichler erklärte, dass Defoe im Vorfeld des Act of Union 1707 als Spion und politischer Manipulator nach Schottland entsandt wurde – inkognito, denn offen wäre er gelyncht worden.
Dort verbreitete er gezielt Fake News, schrieb gleichzeitig für und gegen die Union, je nachdem, welche Stimmung er erzeugen wollte. Immer aber ließ er die Gegner der Union dümmer, unvernünftiger oder gefährlicher aussehen als deren Befürworter.
Defoe war ein Meister der Täuschung – rhetorisch, politisch und journalistisch. Seine Methoden wirken auffallend modern.
Bichler endete mit einem Hinweis auf die schier unglaubliche Vielfalt von Defoes Werk – insgesamt 545 Publikationen, von Romanen über Pamphlete bis zu politischen Nachrichten – und auf Defoes Tod 1731, erneut auf der Flucht vor Gläubigern.
Der Präsident bedankte sich herzlich für die spannende Reise durch Piraterie, Politik und Spionage. Wien, meinte er augenzwinkernd, sei ja nicht nur eine Musikstadt, sondern wohl auch seit Jahrhunderten ein Zentrum der Spionage – und das offenbar bis heute.
Damit leitete er zum gemütlichen Teil über: zu Brötchen, Getränken (Wein und Rum!) und zur Gelegenheit, die wunderschönen Stücke des House of Scotland in Ruhe zu betrachten – und, wie sich zeigte, auch zu erwerben. Mehrere Gäste konnten der Versuchung nicht widerstehen, darunter auch meine Frau, die mit berechtigter Begeisterung zugriff. Die Qualität und Originalität der Arbeiten fanden allseits große Anerkennung; man spürte, dass hier echte Handwerkskunst und Liebe zum Detail am Werk waren.
Und ganz nebenbei: Wer jemanden kennt, der an solchen Abenden Freude hätte – unsere Gemeinschaft freut sich immer über neue, interessierte Mitglieder.
***
Hinterlassen Sie einen Kommentar