Rückblick auf den Vortrag „Globale Perspektiven“ von und mit Dr. Wolfgang Schüssel in den Räumen der ÖGAVN in der Stallburg am 25. Oktober 2023.

Von Wolfgang Geißler

Die Welt scheint aus den Fugen geraten zu sein

Mit den eher besorgten Worten „die Welt scheint aus den Fugen geraten zu sein“ leitete unser Vizepräsident Botschafter i.R. Dr. Alexander Christiani den schon lange erwarteten Vortrag des Bundeskanzlers a. D. Dr. Wolfgang Schüssel ein. Damit verwies er auf den brutalen Überfall Putins auf die Ukraine vom 24. 2. 2022 und das barbarische Morden der islamistischen Terrorbande Hamas an 1400 Juden in Israel am 7. 10. 2023.

Als Hausherr der Räumlichkeiten der Österreichischen Gesellschaft für Außenpolitik und die Vereinten Nationen in der Stallburg von Dr. Christiani betitelt, winkte Dr. Schüssel bescheiden ab, denn dieser sei die Burghauptmannschaft, er aber „bloß“ der Vorsitzende der ÖGAVN.

Sein halbstündiger Vortrag, dem eine weitere halbe Stunde, Fragen und Antworten gewidmet, folgen sollte, war, um den Ausdruck wieder einmal zu strapazieren, eine wahre tour de force und ein intellektuelles Vergnügen.

In der ersten halben Stunde befasste er sich mit den vielen Herausforderungen, die auf uns warten:

  1. Digitalisierung und Künstliche Intelligenz
  2. Dekarbonisierung
  3. Geopolitische Herausforderungen wie
    • Konflikte
    • Global Food Crisis
    • Migrationsströme
    • Balkanerweiterung
    • Politische Systeme
    • Systemfragen

Auch hier gab es einen für die Österreichisch-Britische Gesellschaft so wesentlichen, wenn auch nur kurzen „Englandbezug“. Einleitend verwies nämlich Dr. Schüssel auf ein Treffen mit Angela Merkel im geselligen Rahmen eines gemeinsamen Abendessens so um die Zeit des Überfalls Russlands auf die Ukraine, in dem sie warnte, Brexit hin oder her,  „Wir dürfen Großbritannien nicht zu unserem Gegner machen.“

„Mögen Sie in interessanten Zeiten leben“ (Chinesisches Sprichwort)

Seit Russland, ein Land, wie jemand konstatierte, das zu Europa gehören sollte, die Tür zu ebendiesem Europa zugeknallt hat, ist es in eine Abhängigkeit zu China geraten. Man darf vermuten, dass es der Führung im Kreml bewusst ist, ganz sicher aber in Peking. Dass das auf Dauer nicht gut gehen kann, ist aber jedem klar. Dazu gab es sogar vor einiger Zeit einen Vortrag. „Die Welt ist (wieder) zweigeteilt. EU und US rücken zusammen. Russland und China tun das gleiche, wobei Russland früher oder später zum Vasallen Chinas degradiert wird. Man bedenke: nur 10 % der intelligentesten, bestens ausgebildeten Chinesen sind genauso viele, wie alle Russen samt Tschetschenen zusammen. Das kann nicht gut gehen.“ (Dr. Werner Fasslabend in der Diplomatischen Akademie am 29. März 2023)

Ob es ein Zufall ist oder nicht, bemerkenswert bleibt wohl die Tatsache, dass es so viele Konflikte gleichzeitig nur innerhalb von wenigen Wochen gibt, was zur berechtigten Befürchtung verleiten darf, China könnte die Chance ausnützen, um Taiwan anzugreifen, da die USA militärisch überdehnt ist. Dabei, so Dr. Schüssels Meinung, war die Blitzkriegstaktik Putins durchaus vernünftig und hätte zum Sieg führen können. Russland aber überschätzte seine Stärke und unterschätzte den Wehrwillen der Ukraine und die USA unterstützte die Ukraine. Der Westen darf sich nicht auf die Sanktionen gegen Russland kurz- oder mittelfristig verlassen, wenngleich sie sicher langfristig Russland schaden wird.

Der Krieg wird weitergehen. Jede Familie aus dem russischen Osten erhält $2000 für den eingezogenen Sohn und sagenhafte $50.000, sollte er fallen. Dr. Schüssel stellte die Frage in den Raum, ob die Ukraine solche Ressourcen aufbringen könnte?

Die globale Nahrungskrise (Global Food Crisis) wie die dadurch herbeigeführten Migrationsströme nach Europa sind bewusst eingesetzte Waffen (weaponisation).

Die EU hat bereits die US bei der militärischen Ukrainehilfe überholt. (Den $20 Mrd. der US stehen $40 Mrd. der EU gegenüber!)

In Zukunft wird es zwei große Mächte geben: Russland–China versus US-Westen.

Bestimmungen über die gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik

Artikel 42

(7) Im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats schulden die anderen Mitgliedstaaten ihm alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung, im Einklang mit Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen. Dies lässt den besonderen Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedstaaten unberührt.

Die Verpflichtungen und die Zusammenarbeit in diesem Bereich bleiben im Einklang mit den im Rahmen der Nordatlantikvertrags-Organisation eingegangenen Verpflichtungen, die für die ihr angehörenden Staaten weiterhin das Fundament ihrer kollektiven Verteidigung und das Instrument für deren Verwirklichung ist.

Die Frage der Neutralität schwebt wie immer über all diesem. Wie weit hat sie noch einen Stellenwert, denn alles was die EU beschließt, hebelt die Neutralität aus. Wolfgang Schüssel ist jedoch der Meinung, dass es falsch wäre, daraus schließen zu wollen, Österreichs nächster Schritt wäre die NATO-Mitgliedschaft, denn sie brächte keinen Mehrwert für uns.

In diesem Zusammenhang ist es erwähnenswert, auf den Unterschied der Waffensysteme EU-US hinzuweisen:

EU 150 Waffensysteme

US   30 Waffensysteme

Hier gibt viel Luft nach oben, um in der EU effizienter zu werden.

Politisch riskante Geoökonomik der EU

Man kann nicht in Bezug auf den Klimawandel alles unter eine einzige Priorität setzen! Die Stärke der EU ist unsere Industrie und damit verbunden der Export. Noch ist die EU die unangefochtene Nummer Eins im Welthandel. €2500 Mrd. ist unser Export wert! Die Hälfte davon sind

  • Autos
  • Papier
  • Chemie
  • Maschinen

und genau diese sind von der „grünen Welle“ (der Umstieg auf Dekarbonisierung) massivst betroffen. Wir schneiden uns ins eigene Fleisch, denn schon gibt es in gewissen Bereichen etwa keine Investitionen in Deutschland mehr, sondern in China. Man muss sich der Konsequenzen bewusst sein, denn am Ende müssen wir uns schon fragen: wollen wir von den Chinesen abhängig sein oder selbst was tun?  Dabei hat Österreich massive Gasvorkommen und die Montanuniversität in Leoben hat eine Frackingmethode entdeckt, die alle bis dahin gehegten Sorgen aus dem Weg geräumt hat, eine perfekte Lösung, aber leider gegen die „Grüne Welle“ geht nichts, also wird alles totgeschwiegen.

Politisches System

Wir kennen zwei Systeme:

  • Das autokratische System und
  • Das demokratische System.

Beide sind in (permanenter) Konkurrenz, so auch, wie Dr. Schüssel meint, die dazugehörigen „Systemfragen“, etwa, kein Mensch würde es akzeptieren, dass eine Partei, die sich nicht vom Nationalsozialismus distanziert hat, ins Parlament einziehen könnte, aber bei den Kommunisten, deren blutgetränkte und grausame Geschichte niemandem unbekannt sein sollte, soll das plötzlich anders sein?

In diesem Zusammenhang kam er auf das „ungarische Modell“ der „Illiberalen Demokratie“ zu sprechen, die er so erklärte. Wir alle leben in einer „liberalen“ Umwelt der Vier Freiheiten der EU: Alle EU-Bürgerinnen und EU-Bürger können sich frei innerhalb der EU bewegen. Sie dürfen in jedem EU-Land wohnen und arbeiten. Für Waren gibt es innerhalb der EU keine Grenzkontrollen, keine Zölle oder andere Handelsbeschränkungen. Die EU-Bürgerinnen und EU-Bürger können in jedem EU-Land ihre Dienstleistungen anbieten.

Orbans Verständnis des Begriffes „liberal“ war zweiteilig: Die französische Interpretation des Wortes „Liberal“ als „Neo-Liberal“ und der amerikanischen, wobei „liberal“ mit „sozialistisch“ gleichgesetzt wird. Davon wollte sich Ungarn (anscheinend) abgrenzen. Dr. Schüssel vertritt die Meinung, dass politische (System) Änderungen nicht von oben (top-down) erzwungen werden können, sondern nur „on the ground“, wie er sagt. Die Bürger müssen es selbst tun, wie Polen es bereits eindrucksvoll vorexerzierte.

Auf Israel angesprochen, meinte er sofort, man solle ihnen keine „guten“ Ratschläge geben. Israel kämpft wieder einmal um seine Existenz und Lösungen sind sehr schwer zu finden, denn einerseits braucht es politisch auf beiden Seiten eine Blutauffrischung mit jungen Leuten, die keine Hardliner (mehr) sind, denn während, wie Dr. Schüssel als Augenzeuge berichtet, jedes Wirtshaus in Tel Aviv „Araber herzlich willkommen“ heißt, bekommt man von den Palästinensern jedes Mal, wenn man nahe an einer Lösung ist, ein borniertes Njet.

Faktum bleibt, dass nur die USA glaubhaft eine Vermittlerrolle ausüben kann. Ein weiteres nicht sehr erbauliches Faktum ist, dass die USA sich verstärkt auf pazifischen Raum konzentrieren wird müssen, somit Europa auf sich selbst gestellt, militärisch verteidigen muss, denn es gibt viele Krisenherde und es kommen immer mehr welche dazu. Gerade jetzt, als ich diese Zeilen schreibe, lese ich in der „PRESSE“ Überschrift, dass die „EU-Hilfe für die Ukraine bröckelt“.

Wir werden mit vielen Herausforderungen konfrontiert, deren Lösung komplex und schwierig sind. Selbst Papst Franziskus beschreibt die Konflikte als Dritter Weltkrieg auf Raten. Diesen gilt es, unter allen Umständen zu verhindern!

Dr. Christiani

„Wo bekommen Sie das exklusiv: in der Österreichisch-Britischen Gesellschaft!“, mit diesen Worten beendete unser Vizepräsident Botschafter Dr. Alexander Christiani, der es erst durch seine Beharrlichkeit ermöglichte, dem ehemaligen Bundeskanzler Dr. Schüssel zuhören zu dürfen, dessen Vortrag und erntete tosenden Applaus. Zu Recht!

Es klingt nach dieser intellektuellen Reise fast banal, doch die köstlichen Brötchen und Getränke, bereitgestellt und serviert von unserem Café Ministerium, waren uns am Ende doch sehr willkommen.

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