Ein Rückblick auf den Vortrag von Dr. Klaus-Dieter Kieslinger am 7. November 2025, im Café Ministerium.
(Photos: © Wolfgang Geißler)

Von Wolfgang Geißler

Einleitung

Der Abend begann mit einem kleinen Zwischenfall – ein zerbrochenes Glas sorgte kurz für Heiterkeit und nahm der formellen Atmosphäre die Schärfe.
Wie es bei festlichen Anlässen bisweilen der Master of Ceremony handhabt, wollte Prof. Dr. Kurt Tiroch die Aufmerksamkeit der Gäste mit einem leichten Klirren – dem sanften Antippen eines Weinglases mit dem Messer – auf sich ziehen; nur fiel der enthusiastische Versuch etwas kräftiger aus als geplant.
Das Eis war gebrochen, im wahrsten Sinn des Wortes, und die Stimmung sofort gelockert.

Dr. Tiroch begrüßte die Anwesenden mit gewohnter Spontaneität und gab einen Überblick über die bevorstehenden Veranstaltungen der Österreichisch-Britischen Gesellschaft:

das verschobene Event im House of Scotland am 2. Dezember,

das Konzert für Firmenmitglieder am 10. Dezember in der evangelischen Stadtkirche von Clemens Unterrainer,

eine Veranstaltung mit Erica Freeman am 11. Dezember

sowie die Weihnachtsfeier am 19. Dezember, „wie immer mit einer kleinen Überraschung“.

Dann leitete er zum Thema des Abends über:

„Die Kraft des Unbewussten, die Kraft der Gedanken zu entfesseln.“

Er erwähnte sein früheres Interesse an Psychologie, erzählte, dass er zwölf Semester Psychologie studiert habe, bevor er in die Wirtschaft wechselte, und bekannte, wie sehr ihn die Idee fasziniere, dass Gedanken Kräfte entwickeln können.

Der Vortrag von Dr. Klaus-Dieter Kieslinger

Dr. Klaus-Dieter Kieslinger, Neurologe an der Privatklinik Wehrle-Diakonissen in Salzburg, begann seinen Vortrag mit Dank an die Österreichisch-Britische Gesellschaft und an Sabine Schmidt-First, durch deren Einladung er nach Wien gekommen war. Beide stammen, wie er erwähnte, aus dem Kärntner Lavanttal, hätten sich aber erst über soziale Medien kennengelernt.

Der englische Titel seines Buches Imagine – Mit inneren Bildern die Kraft des Unbewussten entfesseln sei eine bewusste Anspielung auf John Lennons Lied Imagine.

„You may say I’m a dreamer, but I’m not the only one“ – mit dieser Zeile, so Kieslinger, beginne alles Nachdenken über die Macht innerer Bilder.

Er sprach über seine Studien in Graz, Wien, Cambridge und Paris sowie über ein prägendes Jahr in Großbritannien – in Cambridge und Edinburgh – wo er den akademischen Geist, die Begeisterung und die Verbindung von Wissenschaft, Musik und Sport als bereichernd erlebt habe.

Lesung und Ausgangspunkt

Zu Beginn las Dr. Kieslinger die einleitenden Seiten seines Buches.
Sie schildern eine innere Vision: Farben, Licht, Gestalten und Bewegungen, inspiriert von Hieronymus Bosch – eine Szene, die zur Einsicht führt, dass Gedanken und Handlungen Spuren in der Welt hinterlassen.
„Wie das mit Neurologie zusammenhängt“, sagte er, „darüber werden wir sprechen.“

Er berichtete, dass das Buch aus einer persönlichen Krise entstanden sei – einer schweren Beinverletzung und einer langen Genesungszeit, in der er begann, über Bewusstsein und Heilung nachzudenken.

Ein Zitat von Friedrich Nietzsche„Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können“ – wurde ihm dabei zur Leitlinie.

Was ist Imagination?

Imagination, so Dr. Kieslinger, sei die Fähigkeit, innere Bilder zu erzeugen – visuelle, sensorische und emotionale.

Sie sei kein esoterisches Konzept, sondern eine nachweisbare Gehirnfunktion.
Er demonstrierte dies mit einfachen Übungen: dem inneren Bild des eigenen Autos und der Vorstellung, in eine Zitrone zu beißen – eine Idee, die unmittelbar körperliche Reaktionen auslöse.

Das Gehirn, erklärte er, aktiviere dieselben neuronalen Bahnen wie reale Wahrnehmung.

Es unterscheide nicht eindeutig zwischen Wirklichkeit und Vorstellung.
Darin liege ihr Potenzial, aber auch ihre Verantwortung:

Wiederholte negative Vorstellungen verstärken Angst und Unsicherheit, positive fördern Zielklarheit und Motivation.

Historische und wissenschaftliche Grundlagen

Dr. Kieslinger zog einen weiten Bogen – von Aristoteles über Kant und Sartre bis zu Slavoj Žižek, der darauf hinweist, dass die moderne Wissenschaft unser Verständnis von Realität verändert.

Ein kurzer Exkurs zu Slavoj Žižek, bei dem ich – zugegeben – länger verweile als bei manch anderem der genannten Denker, schlicht, weil mich sein Zugang zum Christentum überrascht hat.

Der slowenische Philosoph bezeichnet sich selbst als „christlichen Atheisten“ – ein Paradox, das seinem Denken entspricht.

Für Žižek liegt die tiefste Wahrheit des Christentums nicht im Glauben an einen allmächtigen Gott, sondern in der Erkenntnis seines Verschwindens. Am Kreuz, so Žižek, stirbt nicht nur Christus, sondern die Vorstellung eines allwissenden, eingreifenden Gottes. Was bleibt, ist der Mensch – mit seiner Verantwortung, seinem Zweifel, seiner Freiheit. In diesem Sinn ist der „christliche Atheist“ kein Leugner, sondern jemand, der das Drama der Passion bis zum Ende denkt: Nicht Gott erlöst den Menschen, sondern der Mensch erkennt in der Verlassenheit seine eigene schöpferische Kraft.

Nach diesem persönlichen Exkurs kehre ich zurück zum Gedankengang des Vortrags:

Dr. Kieslinger führte nun den Faden weiter zur Wissenschaft und erklärte, dass unser Gehirn „Realität simuliert“.

Diese Erkenntnis habe nicht nur neurobiologische, sondern auch erkenntnistheoretische Bedeutung – denn Wahrnehmung und Interpretation seien untrennbar miteinander verwoben.

Auch die Quantenphysik liefere eine Parallele: Der Beobachter beeinflusse das Ergebnis der Messung, und in gewissem Sinne entstehe Realität erst im Akt der Wahrnehmung.

Imagination in Psychotherapie und Religion

Die Imagination habe, so Dr. Kieslinger, einen festen Platz in Psychotherapie und Coaching:

  • In der Verhaltenstherapie bei Phobien.
  • In der Traumatherapie nach Ilse Redemann, wo imaginierte „sichere Orte“ Stabilität schaffen.
  • In der katathym-imaginativen Psychotherapie (Katathymes Bilderleben), einer tiefenpsychologisch fundierten Methode, die der deutsche Arzt Hanscarl Leuner (1919–1996) entwickelte und die mit geführten inneren Bildern arbeitet.

Er erinnerte an C. G. Jung, dessen Visionen Symbolwelten eröffneten, und an Viktor Frankl, der in nationalsozialistischen Konzentrationslagern gefangen war und mit Hilfe geistiger Imagination überlebte – durch die Vorstellung von Freiheit, Vorträgen, Kochrezepten und geistiger Tätigkeit in einer künftigen, befreiten Welt.

Im Bereich der Religion verwies er auf Ignatius von Loyola, der in seinen Exerzitien das innere Bild als Weg zu spiritueller Erfahrung nutzte, und auf schamanische Traditionen, die durch symbolische Reisen und Krafttiere Heilung suchten.

Imagination in Kunst, Wissenschaft und Sport

Eine Fülle von Beispielen illustrierte die Vielfalt des Themas:
Pelé und Petra Kronberger, die ihre Bewegungen im Geist vorwegnahmen;
eine Basketball-Studie, bei der mentales Training fast so effektiv war wie körperliches;

Beethoven, der trotz Taubheit komponierte;

Enid Blyton, die ihre Geschichten „wie Filme“ sah;

Einstein, der in Gedanken auf Lichtstrahlen ritt;

Kekulé, dem im Traum die sich selbst verschlingende Schlange den Benzolring offenbarte;

und selbst US-Navy SEALs, die Einsätze im Geist vorbereiteten, bevor sie sie ausführten.

Neurowissenschaftliche Erklärung

Anhand des motorischen Homunculus erklärte Dr. Kieslinger, wie das Gehirn Körperfunktionen abbildet.

Imagination aktiviere dieselben Areale wie reale Bewegung.
Wiederholte Vorstellung führe durch Neuroplastizität zu messbaren Veränderungen – das Gehirn trainiere durch Denken.

Schlussgedanken

Imagination sei eine natürliche Fähigkeit des Menschen – eine Brücke zwischen Körper und Geist.

Sie ermögliche Heilung, Motivation und Kreativität, wenn sie bewusst eingesetzt werde.

Sie sei keine esoterische Lehre, sondern eine neurobiologisch erklärbare Tatsache.

Mit Dank an die Österreichisch-Britische Gesellschaft, an Sabine Schmidt-First und Prof. Dr. Kurt Tiroch schloss Dr. Kieslinger seinen Vortrag und lud zu Fragen und Gesprächen ein.

Reflexion: Imagination, Wille und Verantwortung

Dr. Kieslinger stellte die Imagination als schöpferische Kraft dar – als Fähigkeit, innere Bilder zu formen, die Denken, Fühlen und Handeln prägen.
In seinem Vortrag verband er Neurologie, Philosophie und Spiritualität und nannte Uwe Böschemeyer, C. G. Jung, Viktor Frankl, Slavoj Žižek, Jean-Paul Sartre, Ignatius von Loyola und Friedrich August Kekulé.
Alle eint die Suche nach der Schnittstelle zwischen Bewusstsein und Wirklichkeit – genau dort liegt der Ort der Imagination.

Imagination und Quantenphysik

Die Verbindung zwischen Imagination und Quantenmechanik ist keine direkte, doch eine aufschlussreiche Analogie.

In der Quantenphysik existiert ein Teilchen in einem Zustand vieler Möglichkeiten, bis eine Beobachtung (Messung) es zwingt, einen bestimmten Zustand anzunehmen. Realität entsteht – oder wird sichtbar – im Moment der Wechselwirkung.

In der Psychologie geschieht Vergleichbares: Das Gehirn hält unzählige Wahrnehmungs- und Handlungsmöglichkeiten bereit, doch erst die Aufmerksamkeit, unser innerer Beobachter, „kollabiert“ diese Vielfalt zu einer Erfahrung.

Die Imagination ist dieser bewusste Beobachtungsakt – sie erschafft eine „innere Realität“, die biochemisch und emotional spürbar wird.
Wie in der Quantenphysik die Messung, so bestimmt im Geist die Vorstellung, welche Möglichkeit Wirklichkeit gewinnt.

Vom Gehirn zur Erfahrung

Der kanadische Neurochirurg Wilder Penfield kartierte mit dem Homunculus jene verzerrte Figur, die zeigt, wie stark einzelne Körperteile im Gehirn vertreten sind.

Dieses Bild verdeutlicht, dass das, was wir „Wirklichkeit“ nennen, kein Abbild, sondern eine Konstruktion des Nervensystems ist.

Hier knüpft Paul Watzlawick an, der fragte: „Wie wirklich ist die Wirklichkeit?“
Unsere Wahrnehmung, so seine These, sei niemals objektiv, sondern immer das Ergebnis individueller und kultureller Deutung.

Dr. Kieslingers Darstellung der Imagination schließt daran an: Das Gehirn reagiert nicht auf die Welt an sich, sondern auf das Bild, das es sich von ihr gemacht hat.

Traum – Imagination – Realität

Die Grenze zwischen Traum, Vorstellung und Wirklichkeit ist fließend.
Im Traum konstruiert das Gehirn eine vollständige Realität aus inneren Impulsen; in der Imagination geschieht Ähnliches – nur unter bewusster Kontrolle.

Das erklärt, warum imaginierte Erfahrungen denselben neuronalen Spuren folgen wie reale:

Das Gehirn unterscheidet nicht streng zwischen „erlebt“ und „vorgestellt“.
Damit steht die Imagination zwischen Schlaf und Wachen – sie ist der bewusste Traum, in dem Denken Gestalt annimmt.

Der Wille zur Gestaltung

Sartre sah im Bewusstsein die Freiheit, ständig neu zu wählen.
Nietzsche nannte es den „Willen zur Macht“ – nicht als Herrschaft, sondern als schöpferische Energie.

Doch bei Nietzsche war der „Wille zur Macht“ etwas anderes als der „Triumph des Willens“.

Für Nietzsche war er keine politische Parole, sondern eine metaphysische und psychologische Grundkraft – das Streben jedes Lebewesens, sich zu entfalten, zu wachsen, zu gestalten.

Er meinte damit nicht Unterwerfung oder Gewalt, sondern Selbstüberwindung: die Fähigkeit, aus Schwäche Stärke zu machen, aus Chaos Form, aus Leiden Sinn.

Der Übermensch war nicht der Herrenmensch, den die Nationalsozialisten daraus machten, sondern das Ideal eines Menschen, der eigene Werte schafft, statt sich an fremde zu klammern. Nietzsche wollte den Menschen befreien, nicht uniformieren.

Die Nationalsozialisten – vor allem Alfred Baeumler und Elisabeth Förster-Nietzsche, seine Schwester – haben seine Texte entstellt:
Sie strichen Ironie, Skepsis und Widerspruch und machten daraus eine ideologische Bibel.

Aus Nietzsches „Wille zur Macht“ wurde bei ihnen der „Wille des Führers“, aus dem Übermenschen der „arische“ Held, und aus Selbstüberwindung die Unterwerfung unter die Masse.

Kurz gesagt: Nietzsche sprach vom Willen als schöpferischer Energie – die Nazis vom Willen als Werkzeug der Macht. Zwischen beiden steht ein Abgrund.

Leni Riefenstahls „Triumph des Willens“ demonstrierte, wie ästhetische Imagination zur Manipulation pervertieren kann. Aus innerer Schau wurde Massenhypnose.

Damit wird deutlich: Die schöpferische Kraft des Bildes ist ambivalent – sie kann befreien oder verführen.

Böschemeyer sprach von der „inneren Quelle der Sinnfindung“, die sich erst öffnet, wenn der Mensch seine Bilder bewusst wählt.
In allen Fällen erscheint der Mensch als Mitgestalter seiner Realität – ein Wesen, das sich selbst und seine Umwelt durch Vorstellung und Entscheidung formt.

Von der Erkenntnis zur Verantwortung

Jung verstand Imagination als Zugang zu Symbolen des kollektiven Unbewussten,

Frankl als geistige Überlebensstrategie,

Ignatius von Loyola als Übung des Glaubens,

Kekulé als wissenschaftliche Intuition im Traum.

In all diesen Beispielen zeigt sich: Das innere Bild ist nicht bloß Spiegel, sondern Werkzeug des Erkennens.

Schlussgedanke

Zwischen Penfields Homunculus und dem messenden Beobachter der Physik, zwischen der Macht des Bildes und der Freiheit des Gedankens, spannt sich das Feld unserer Vorstellungskraft.

Die Naturwissenschaft beschreibt, was geschieht;

die Philosophie fragt, warum;

die Ethik entscheidet, wofür.

Imagination steht im Zentrum dieses Dreiecks.

Sie verbindet Traum und Wirklichkeit, Erkenntnis und Gefühl, Wille und Verantwortung – und macht den Menschen zu dem, was er ist:
nicht nur ein Produkt der Welt, sondern ihr bewusster Mitgestalter.

Ein persönlicher Nachgedanke

Erlaubt sei zum Schluss eine persönliche Bemerkung:

In summa summarum ist all dies nicht unbedingt ein atheistisches Gedankengebäude, das den Menschen an die Stelle Gottes rückt.
Vielmehr sehe ich in der menschlichen Vorstellungskraft jenen göttlichen Funken, der uns nicht zur Selbstvergottung, sondern zur Mitwirkung beruft – zur Teilnahme an der fortwährenden Schöpfung.

Die Imagination, richtig verstanden, ist kein Akt der Hybris, sondern der Demut: ein bewusstes Mitwirken am Sinn.

Das Experiment der „Grünen Wiese“

Zum Ende dieses Abends – und vielleicht als Einladung zum eigenen Nachdenken – ließe sich das Prinzip der Imagination in einem einfachen Experiment erfahren.

Man stelle sich eine grüne Wiese vor.

Nichts weiter. Kein Auftrag, kein Ziel – nur das stille Bild einer offenen Fläche unter einem weiten Himmel. Mit geschlossenen Augen nimmt man wahr, was geschieht:

Wie das Grün sich verändert, wie Wind über das Gras streicht, wie Sonne auf der Haut spürbar wird.

Das Gehirn reagiert, als wäre all dies wirklich. Herzschlag, Atmung, Temperatur und Muskelspannung passen sich dem inneren Bild an.
Was eben noch Gedanke war, wird körperliche Erfahrung – ein Beispiel für die schöpferische Macht der Vorstellung.

Dr. Kieslinger beschrieb die Imagination als Brücke zwischen Neurologie und Bewusstsein.

Das Experiment der „Grünen Wiese“ zeigt, wie leicht sich diese Brücke betreten lässt. Ein einziger Gedanke genügt, um die Welt zu verändern – zumindest die eigene.

Nach all diesen anregenden Gedanken und Selbstexperimenten verwöhnte uns das Café Ministerium mit einem köstlichen Flying Dinner – und auch beim Wein war man erfreulich großzügig.

Zum Abschluss ein kleines Gedankenexperiment:

Wo sonst – als bei der Österreichisch-Britischen Gesellschaft – bekommt man derart viel Nahrung für Gehirn, Gemüt, Seele, Geist und Körper zugleich?

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